Das Weihnachtswunder
Das Weihnachtswunder Lesezeit: ca. 3 Minuten Es ist das erste Jahr, dass Marlene sich nicht auf Weihnachten freut. Um ehrlich zu sein hat sie regelrecht Angst davor. Angst vor dem Alleinsein. Der Gedanke an die Menschen, die Heiligabend mit ihren Lieben zusammen sein können, bereitet ihr beinahe körperlichen Schmerz.
Autor: weihnachtsgeschichte.biz
Vor vier Monaten erst hat sie die Stelle in der Klinik in Skagen angetreten. Dass es geklappt hat war, zumindest karrieretechnisch, ein echter Glücksfall. Marlenes Dänischkenntnisse waren sicher nicht die besten, ihr Kenntnisse als Unfallchirurgin dafür jedoch umso exzellenter. So landete sie schließlich am nördlichsten Zipfel von Dänemark, in dieser bezaubernden kleinen Stadt, in einem wunderbaren kleinen Häuschen mit Blick aufs Meer.
Marlene wäre gerne über Weihnachten nach Hause zu ihren Eltern gefahren. Jedes Jahr wurde im Elternhaus gemeinsam gefeiert. Dort versammelten sich die beiden Brüder, irgendwann deren Frauen und später auch die Enkel. Vor allem die kleinen Nichten und Neffen, mit ihren unschuldig und so glücklich funkelnden Augen, machten den Heiligabend auch für Marlene zu einem ganz besonderen Erlebnis.
Dieses Jahr hatte Marlene am ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag Bereitschaftsdienst. Das bedeutete, dass sie zwar nicht vor Ort zu sein brauchte, aber immer telefonisch erreichbar und im Bedarfsfall binnen 30 Minuten in der Klinik zu sein hatte. Bereitschaftsdienste sind im beschaulichen Skagen eher Formsache. Vielleicht sind die Dänen auch außerhalb der regulären Dienstzeiten einfach vorsichtiger, schon allein um keine Umstände zu machen.
Überhaupt hatte Marlene die Leute in Skagen als überaus freundlich, aufmerksam und hilfsbereit kennengelernt. Ihre Nachbarn hatten sie herzlich mit selbst gebackenen Drømmekage, dem traditionellen dänischen Traumkuchen, willkommen geheißen. Ab und an traf man sich am Gartenzaun und soweit es sprachlich möglich war, plauderte man ein wenig über Gott und die Welt.
Schon bald aber wurden die Tage kürzer. Die Sonne ging immer später auf und immer früher unter. Es gab nur noch die freien Tage, in denen Marlene tatsächlich Tageslicht sah. Was für die Menschen so hoch im Norden wiederkehrende Normalität war, schlug ihr tatsächlich aufs Gemüt. Sie tat es den Leuten in Skagen gleich, die sich mit allerlei Lampen und Kerzen buchstäbliche Lichtblicke in ihr Zuhause holten. Doch die zunächst noch romantische und heimlige Atmosphäre verlor sich irgendwann in der Macht dieser dunklen Jahreszeit.
So war es also Heiligabend geworden. Marlene hatte sich Tee gekocht, saß vor dem Kaminofen, in dem das Feuer beinahe aufgeregt knisterte und wohlige Wärme schuf. Eigentlich hätte sie nur zu gerne ein paar Weihnachtslieder gehört, doch sie wusste, dass sie damit alle Schleusen öffnen und einfach nur noch hemmungslos weinen würde. Was insofern ungünstig wäre, da sie in einer halben Stunde zumindest per Skype doch noch bei ihrer Familie sein würde.
Gerade als sie ihr Notebook am Esszimmertisch aufklappte, klopfte es laut an der Tür. Marlene zuckte zusammen. Wer oder was konnte das sein? Sie ging in den kleinen Vorratsraum neben der Tür, spähte durch das schmale Fenster und dann sah sie es.
Das Weihnachtswunder! Menschgeworden und schwer bepackt standen ihre Eltern, Brüder, Schwägerinnen sowie ihre Nichten und Neffen vor dem Haus. Marlene war nicht mehr zu halten und lief, so schnell es die Wollsocken auf den Holzdielen eben zuließen, zur Tür.
"Weißt Du mein Kind," meinte ihre Mutter, als sie Marlene zur Begrüßung in die Arme schloss, "wir haben’s einfach nur gemacht wie die drei Weisen. Wir sind dem Stern gefolgt und unseren Herzen.". Dann zeigte sie in den Himmel. Tatsächlich stand der Polarstern an diesem Heiligabend direkt über Skagen und warf sein helles Licht auf das kleine Haus von Marlene.